Astrid Lange versteckt mit Freude „ein Universum hinter 24 Papiertürchen“, wie sie selbst sagt. Ihre Adventskalender verraten jeden Tag kleine Anekdoten aus Kultur, Geschichte und Gegenwart der jeweiligen Stadt. Und sie funktionieren cross-medial. Sie sind eine wunderbare Kombination aus klassischem Papierkalender zum Aufstellen und digitaler Wissensvermittlung: Zu jedem der Motive hinter den 24 Türchen gibt es einen Text auf der jeweiligen Internetseite des Stadtkalenders. Die Webadresse ist auf der Rückseite des Kalenders aufgedruckt und kann mit dem PC, dem Tablet oder auch mit dem Handy besucht werden. Am schönsten ist es, beides zu kombinieren. Aber die Kalender sind auch ohne Internettexte eine Augenweide. Viele Exemplare gibt es in zwei Größen. Bei den kleineren Kalendern ist noch ein roter Briefumschlag zum Versenden dabei. Die größeren Kalender passen in einen DIN-A-4-Umschlag.
„Mir geht es darum, ganz Ernsthaftes mit Merkwürdigem zu mischen“
Frau Lange, wie kommt man auf die Idee, Adventskalender zu entwerfen, die ganz besondere Einblicke in Städte oder Regionen geben?
Eigentlich war der Auslöser ein Aufenthalt in einer besonders schönen Stadt, nämlich Görlitz. Ich habe dort vor 20 Jahren für ein Jahr gearbeitet und mich mit der Stadtgeschichte befasst. Die alten Ansichten auf Görlitz, aus der Vogelperspektive, habe ich sehr gemocht. Und irgendwann kannte ich die Stadt wie meine Westentasche. Außerdem hatte ich viele Jahre zuvor für meine engsten Freundinnen und Freunde in Berlin schon einmal kleine Adventskalender angefertigt, von Hand, mit Türchen, hinter denen sich Symbole für das befanden, was mit uns zu tun hatte bzw. was wir zusammen erlebt hatten. Die wurden dann irgendwann auch gedruckt und verkauft, aber in sehr kleiner Auflage. In Görlitz kam mir die Idee, wieder einen Adventskalender zu machen, mit Motiven hinter den Türchen, die zur Stadt passen sollten. Weil ich so aber mein ganzes Stadtwissen gar nicht anwenden konnte, fiel mir ein, ergänzend eine digitale Seite mit Texten zu den Türchen zu bauen.
Und wie haben Sie für die Görlitzer Adventskalender dann Abnehmer gefunden?
Ich bin in die Geschäfte gegangen und habe den Kalender vorgestellt. Das hat mich erst eine Heidenüberwindung gekostet, aber dann Spaß gemacht. Und so habe ich damit weitergemacht. Mir fiel ein, mit welchen Orten in Deutschland ich besonders verbunden bin. Alle Kalender haben mit meiner Geschichte zu tun, damit, wo ich mich gut auskenne und welche Orte mich besonders interessieren.
Zum Beispiel?
Auf dem Dresden-Kalender ist das kleine runde Atelier auf der Brühlschen Terrasse zu sehen. Da habe ich mein Diplom gemacht. Vieles in meinen Kalendern hat einen Sachsenbezug. Ich nenne das nachgeholte Heimatkunde.
Was für ein Prozess ist das von der Entscheidung für eine Stadt bis zum fertigen Stadt-Adventskalender?
Lange: Einen richtigen Anfang gibt es meist nicht. Oft hat das Ganze einen langen Vorlauf. Ich komme auf die Idee, gehe an dem Ort spazieren, fange an, darüber zu lesen, ganz gemischt, auch Biografien und Romane. Ich besuche passende Museen. Langsam formt sich dann ein Bild: Was soll auf dem Kalender sein? Wenn ich mich endgültig entschieden habe, dann grase ich den Ort quasi immer wieder ab. Ich fahre häufig hin, gehe dort spazieren, lese weiter darüber, gucke, wie die topografische Lage ist. Ich laufe für meine Kalender durch Städte, die ich sehr gut kenne, und bin dann doch immer wieder verblüfft, was ich dort vorher noch gar nicht wahrgenommen habe.
Und wann fangen Sie an zu zeichnen?
Irgendwann abends setze ich mich an den Rechner, schaue mir Straßenzüge auf Google Maps an, betrachte Fotos und Notizen, und dann fange ich mit den Bleistiftzeichnungen an. Zu den schönsten Erlebnissen gehört immer wieder die Entdeckung, wie sich alles in einer Stadt miteinander kombiniert, wenn man es aus der Vogelperspektive betrachtet. Solange man auf den Straßen läuft, hat man keinen Überblick und erkennt diese Bezüge nicht. Deshalb steige ich, wenn möglich, auf Kirchtürme. Da sieht man dann die Stadtsturktur, die Wege etc. Etwas zeichnen können, das bedeutet am Ende, es auch verstanden zu haben.
Wie entscheiden Sie, welche Symbole hinter die Türchen kommen? Und dann auch im Mittelpunkt des jeweiligen Kalendertextes stehen?
Schon wenn ich zeichne, überlege ich, was hinter die Türchen kommen soll, und habe erste Aufhänger dafür. Aber häufig finde ich später etwas, das noch origineller ist. Mir geht es darum, für die Stadt-Adventskalender ganz Ernsthaftes mit Merkwürdigem zu mischen. Hinter den Türen und in den Texten soll man eine große Bandbreite finden. Meine Kalender sind keine Architekturkalender im klassischen Sinn. Man soll sich auch wundern.
Was ist die größte Herausforderung im ganzen Entstehungsprozess?
Die Kolorierung. Das Zeichnen geht mir relativ einfach von der Hand. Zur Not fange ich noch mal neu an. Dann lasse ich die Zeichnung scannen und probiere dutzende Varianten für die Farbgebung aus. Sich dann so zu entscheiden, dass es stimmig ist, das finde ich wahnsinig schwierig.
Gibt es einen Stichtag, ab dem es kritisch wird? An dem ein neuer Kalender fertig sein muss, damit man ihn rechtzeitig zur Adventszeit kaufen kann?
Spätestens Ende August muss die Vorlage in der Druckerei sein. Sonst reicht die Zeit nicht für den Druck und um sie in Museumsshops und Buchläden zu liefern.
Den Kalender erschaffen Sie eher im Stillen. Um für ihn zu werben, müssen Sie unter Menschen. Wie ist das dann?
Vorher mache ich tatsächlich eher alles ganz allein. Dann ist es schön, in Läden und zu Leuten zu kommen. Manchmal stoße ich aber erst mal auf Distanziertheit. Wenn ich dann meine Kalender auspacke, eine freudige Reaktion kommt, sich tolle Gespräche entwickeln, ist das wunderbar für mich als Künstlerin.
Sie müssen ja schon im Hochsommer für Weihnachten arbeiten. Ab wann wird es für Sie wirklich weihnachtlich mit den neuen Kalendern?
Wenn sie aus der Druckerei kommen. Mich erinnert das an den Prozess beim Entwickeln von Schwarz-Weiß-Fotos. Man belichtet das Negativ, hantiert beim Entwickeln, muss warten, bis das Ergebnis aus der Schale kommt. Und ist dann doch überrascht, was am Ende zu sehen ist. So geht es mir mit meinen Kalendern: Am Ende bin ich immer überrascht, was herausgekommen ist.
Die Arbeit ist ja nicht zu Ende, wenn die Adventskalender verkauft sind. Ab dem 1.12. müssen Sie für alle ihre Kalender täglich die virtellen Türchen zum Lesen öffnen – bis einschließlich Heiligabend. Wahrscheinlich wird mancher Text in letzter Minute fertig oder noch einmal umgeschrieben. Wie geht es Ihnen in dieser Phase?
Es wird manchmal wirklich knapp mit den Texten. Und am Ende bin ich schon ganz schön kaputt. Aber die Kalender haben einen schönen Nebeneffekt. Ich habe keinen guten Orientierungssinn. Wenn ich mich für einen Kalender aber einmal mit einer Stadt befasst habe, verlaufe ich mich dort nicht mehr.